Ein Sog ist es, den die Geschichte von Martha entfaltet, die über 80jährig auf den nur über Pfade zu erreichenden Bergbauernhof ihrer Kindheit zurückkehrt.
Mit einer eindringlichen Sprache schildert Barbara Imgrund in ihrem im Ulrike Helmer Verlag erschienenen Buch „Der Wurm. Eine kleine Geschichte“ die Erlebnisse und Erinnerungen der alten Frau, die unmittelbar ineinander zu fließen scheinen. Während Martha Räume betritt, Türen öffnet, an ihre Familie denkt, stellt die Autorin das Leben Marthas als Kind vor Augen, lässt nahezu unmittelbar am Geschehen teilnehmen, fühlen, hören, sehen, fast schmecken. Aber vor allem fühlen: wie das Leben auf dem Bergbauernhof war, wie schwierig es war, und wie es sich durch die Weltwirtschaftskrise und den Zweiten Weltkrieg verschärft hat. Wie die Menschen zusammenlebten und sich irgendwann weg von der Menschlichkeit bis in die engste Familie hinein verändert haben durch das, was im Buch zunächst nur „der Wurm“ genannt wird.
Martha ist ein letztes Mal zum Bauernhof gekommen. Der Wurm kriecht wieder durchs Tal,
„ein Schmarotzer, braun, feist, giftig, der sich in die Köpfe der Leute frisst und ihnen Herrentum einpflanzt. Zuerst hat sie gehofft, dass noch genug von jenen da sind, die sich erinnern und wissen. Dann hat sie gehofft, dass schon genug von jenen da sind, denen die Erinnerung der anderen reicht, um zu wissen. Dann hat sie aufgehört zu hoffen.
Martha weiß, wie es weitergehen wird, doch sie wird es nicht mehr erleben. Der Kreis, der auf dem Berg begann, schließt sich auf dem Berg. Der Wurm wird sie nur diesmal nicht finden. Sie fürchtet die Geister nicht, die auf dem Hof umgehen. Eltern, Großmutter, Geschwister sind so nah, als wäre nur ein Wimpernschlag vergangen. Heimweh nach ihnen wie aus dem Nichts, sogar nach dem Vater.“
Was Martha in ihrer Kindheit in der Familie, auf dem Berg, mit den Tieren und unten im Dorf erlebt hat und wie es für sie bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt weiterging, wird nach und nach erzählt. Der Blick auf die Rolle einzelner Personen verändert sich im Laufe des Buches mehrfach.
Martha lebt seit Kindheitstagen mit einer Schuld, die sie während des Zweiten Weltkriegs auf sich geladen zu haben meint. Eine Schuld, die ihr die Sprache genommen und die Familie geraubt hat. Nur mit Franz konnte sie von dieser Schuld sprechen, Franz, mit dem sie bis vor einem Jahr gut zusammenlebte.
Martha ist auf den Hof gekommen und möchte Abschied nehmen und sterben. Plötzlich meint sie, ihren längst verstorbenen, durch ihre Schuld verstorbenen Bruder Luis vor sich in der Hütte stehen zu sehen. Es ist jedoch der Enkel einer ihrer Schwestern, Paul, Marthas Großneffe. Alle sagen, dass er wie Luis aussieht, er kennt den Schreck, den die Leute kriegen, wenn sie Luis kannten und ihn das erste Mal sehen. Paul weiß sofort, wer Martha ist. Behutsam bringt er sie dazu, mit ihm zu reden und den Teil ihrer Geschichte zu hören, den seine Großmutter ihm erzählt hat und den sie noch nicht kennt.
Eindrücklich und plausibel wird erzählt, wie etwas in Martha heil wird, wie sich die Splitter ihrer Erinnerungen, ihres Lebens zusammenfügen und welche unglaubliche Erleichterung die Wahrheit ihr bringt.
Der Sog, den das Buch entfaltet, war für mich manchmal kaum auszuhalten. Gegen das universelle Grauen, welches sich langsam und immer schneller dann einstellt, wenn Menschen sich abwenden von mitmenschlichem Verhalten, wenn sie nach Sündenböcken suchen, wenn sie sich selbst zu kurz zu kommen finden, hat Barbara Imgrund eine spannend zu lesende, einfühlsame, nachvollziehbare Geschichte geschrieben. Dieses starke, nachklingende, ermutigende Plädoyer für die Menschlichkeit in Form eines kleinen, fast unscheinbaren Buches ist unbedingt empfehlenswert.
Barbara Imgrund: Der Wurm. Eine kleine Geschichte, Roman. Erschienen: April 2025, auch als E-Book erhältlich, 20,00 €, Hardcover, 152 Seiten, ISBN 978-3-89741-494-5

